Interferenzen
Es war der Hinweis ihres Lehrers an der Düsseldorfer Kunstakademie, Professor Eberhard Havekost, der Sandra Schlipkoeter 2011 in das Feld der Wirklichkeit des elektronischen Bildes und der malerischen Aneignung seiner fotografischen Reproduktion führte. Das Gemälde „philips“ aus jenem Jahr markiert diese Wegscheide: die Künstlerin fotografiert ihr Spiegelbild auf dem Glas eines TV-Screens. Experimente führen sie schon ein Jahr später 2012 zu einem weiteren Selbstporträt. „28.12.(1)“ zeigt nicht nur die Überblendung ihres Gesichts mit einem Blitzlicht. Weitere Störungen in Form des physikalischen Phänomens der Interferenzen treten in den Vordergrund, Überlagerungen von Wellen im optischen Raum, die komplexe und verwirrende Linienmuster erzeugen. Die Künstlerin wandelt sich zur Lichtmalerin, von der Professor Tony Cragg anlässlich der Preisverleihung des 1. Gargonza Arts Awards 2012 sagte: „Sie macht eine bestechende Malerei, die mich daran erinnert, dass es nicht nur die Lichtquelle der Sonne gibt. Sie erinnert uns daran, dass wir umgeben sind von Lichtquellen und alles was wir sehen, ist von der Oberfläche und Gegenständen reflektiertes Licht.“
Seit 2012 umkreist Sandra Schlipkoeter diese fotografisch erzeugten und malerisch reproduzierten Interferenzen des digitalen Lichts und bildet daraus in ihrem Œuvre einen konsistenten Werkblock. Grundlage der nun gezielt gesuchten Störungen ist die Verwendung polarisierten Lichts bei Flüssigkristallbildschirmen und der digitalen Kameraoptik von Smartphones. Diese Störungen macht Sandra Schlipkoeter in ihrer fotorealistischen Malerei als autopoetische Artefakte zum Sujet. Sie entwickelte dabei, nach einem deskriptiv-analytischen Beginn, einen zunehmend freieren synthetischen Umgang mit den verbogenen grafischen Linien und verzerrten Farben, bis hin zu dreidimensionalen Werken in Form von Cut-Outs und Installationen, die seit 2018 entstanden sind.
Das aus den ursprünglichen visuellen Störungen abgeleitete Feld unterschiedlicher Arbeiten ist dabei das Resultat einer präzisen und sorgfältigen Auseinandersetzung, die sich über die Jahre hinweg als ein iteratives Verfahren ergeben hat. Das heißt, über modifizierende Wiederholungen und variierende Kombinationen lotet Sandra Schlipkoeter Möglichkeiten der Bildgestaltung aus, basierend auf den technologischen Artefakten und ihren malerischen Fertigkeiten.
Innerhalb des Werkkomplexes resultieren daraus Untergruppen mit einem unterschiedlichen Grad an Intermedialität in einem teils mehrstufigen Wechselspiel aus Bildschöpfung und Reproduktion. Irritationen der Betrachtenden sind dabei nahezu unvermeidlich. Das gilt insbesondere für die Gruppe von Bildern, die in fotorealistischer Manier Interferenzen abbilden, die keinen Verweis auf Gegenständlich-Figuratives tragen oder einen evidenten Hinweis auf ihre Genese geben. Diese Gemälde könnten allgemein für konkrete Malerei und der Op Art zugehörige Werke im Besonderen gehalten werden. Tatsächlich sind die malerisch vergrößerten Interferenzen weder abstrakt noch Werke der Op Art, obwohl das Fotografische so weit zurücktritt, dass man eine psychedelische Interpretation der Malerei von Bridget Riley vor sich zu sehen meint. Sind in der Op Art die optischen Irritationen und Dynamiken Ergebnis eines unmittelbaren Wechselspiels zwischen dem Auge und einem Objekt, ist bei Sandra Schlipkoeter der bildschöpferische Effekt innerhalb des Mediums angesiedelt, dessen Summe den Betrachtenden im Bild oder Cut Out vorliegt.
Ausgehend von diesen „isolierten“ Interferenzbildern auf der Grundlage konkreter Vorlagen beschritt die Künstlerin den Weg zu selbst kreierten Kompositionen, die formal in Gliederung und Farbigkeit den fotografisch erzeugten Artefakten folgen. Diese synthetisch Vorgehensweise führte im nächsten Schritt zu den Cut Outs. Gefügt aus mehreren Schichten farbigen Papiers entspricht jeder Farbschicht an Linien ein Blatt. Diese fügt Sandra Schlipkoeter dann teils willkürlich ineinander, zu einer Gewebe-artigen Struktur. Die fertigen Arbeiten, in denen die Grenze zum dreidimensionalen Relief bereits graduell überschritten wird, vollziehen formal die Struktur der Interferenzen und ihrer Ausbildung nach. Wo geometrische Farbfelder und -zonen das Motiv bestimmen, wird ersichtlich, dass sich die Künstlerin vom abbildhaften Bezug löst. Dieser spiegelt sich, im wahrsten Sinne des Wortes, jedoch erneut ein, wo die Künstlerin mit reflektierenden Folien arbeitet. Dabei handelt es nicht um einen vordergründigen Effekt, sondern um die Auseinandersetzung mit jeweils ortsspezifischen Gegebenheiten. Im Falle der Installation „#ffffff“ ging es 2018 um die besonderen künstlichen Lichtquellen in der Kölner Oper. Die Arbeit „5015“, im Außenbereich des Gargonza Arts Festivals 2019, spielte wiederum mit dem natürlichen und kunsthistorisch legendären Licht der Toskana. Hier können erneut formale Gemeinsamkeiten zur Op Art erkannt werden, in der Spiegel eine wichtige Rolle spielten. Aber im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine Form der Lichtkunst, die jenen autopoetischen Kreationsprozess von Bildschirm- und Kameralicht in einen realen Illusionismus der dritten Dimension überführt, bis hin zu „Forma 9010“, 2020 im Hilbert Raum in Berlin verwirklicht.
Auch die Lichtskulpturen der Gruppe ZERO kommen Betrachtenden nicht grundlos in den Sinn. Wesentlich für das Verständnis dieser vollkommen eigenständigen Werke bleibt aber die Herkunft des Themas in Sandra Schlipkoeters Kunst aus der Medialität der Interferenzen und ihrer malerischen Aneignung.
Zu den weiteren Werkeinheiten innerhalb der Interferenzen gehören Porträts, wie „Claire“ von 2017. Hier malt die Künstlerin die Porträtierte vor dem Hintergrund eines der „isolierten“ oder freigestellten Interferenzbilder, allerdings wiederum nicht unmittelbar, sondern nach einem Foto. Schlipkoeter zeigt hier also eine fünffache Schicht von Bildern: zuvorderst Porträtmalerei, dann Foto, wieder Gemälde, erneut Foto, zuletzt Interferenz. Aber auch in dieser Gruppe von Gemälden ist der Aufbau so klar, dass er seine intermediale Komplexität verbirgt. Denn die malerische Präzision muss nicht zwangsläufig als eine Fotografische oder gar computergenerierte gedeutet werden, denn die Kunst kennt diesen Natur-Realismus spätestens seit der altniederländischen Malerei Jan van Eycks.
Aufschlussreicher sind die hybriden Motive, wie „Datei“ von 2018. Hier verweist das Motiv eines Mauszeigers als Steuerungselement auf die Oberfläche des Desktops eines Computerbildschirms. Linien oben und unten, sowie der Schriftzug „Sandra Schlipkoeter“, verstärken diese Assoziation und kontrastieren zum Fond des Hintergrunds. Der zeigt sich aber nicht in einer einheitlichen Farbe und Helligkeit. Er wird von einem diagonal ausgerichteten Wellenmuster überlagert, das wie ein verzerrtes Gewebe aus Schuss und Kette erscheint, mit einem hellen Zentrum und allmählich dunkleren Randbereichen. Das Hochformat steht allerdings im Widerspruch zum üblichen Format von Computerbildschirmen. Verweisen schon die Helligkeitsverläufe auf die fokale Optik einer Kamera, so verdeutlicht die hochkantige Ausrichtung, nicht zuletzt in ihren Proportionen, auf die Herkunft der Vorlage, einer Smartphone-Fotografie. Sandra Schlipkoeter hebt damit den keineswegs trivialen aktuellen Wettstreit der Bildformate ins Licht.
Seit 1839 steht die künstlerische Malerei immer wieder vor der Herausforderung neuer, teils konkurrierender Bildmedien, wie der damals brandneuen Fotografie. Ablehnung, Ignoranz und Inspiration sind die möglichen Optionen dieser Begegnungen. Immerhin – so lautet ein gängiges Narrativ – hat die Fotografie die Malerei von der Last der Funktion Dinge abzubilden befreit und damit Abstraktion und konkrete Kunst ermöglicht. Sandra Schlipkoeter entdeckt nun umgekehrt die abstrakten Formationen innerhalb der Fotografie und der computergenerierten Bilder. Die Bildwelten, die sie dort entdeckt und die sich mit anderen Ebenen der Wirklichkeit überlagern, stiften dabei mehr als Erkenntnisse über medialisierte Bezüge zur Realität, sondern offenbaren in Einem einen reichen Schatz an Formen und Farben, der nur als inspirierend und inspiriert zu bezeichnen ist.
Thomas W. Kuhn, Rheydt im Mai 2020